PHANTASTIK UND SCIENCE-FICTION VON H.F.E.FAHRNHOLZ

 WAS DENKBAR IST WILL AUCH GESCHEHEN   


 


 STROMWANDERER

 Erzählung   ❊  Juli 2018

 



Sie erwachte aus der Narkose.

Es war ein viel zu schnelles, brutales Erwachen, drängend und heftig wie das Hochschnellen eines luftgefüllten Balls, den man unters Wasser gedrückt hatte.
Sie fürchtete diese bewußtseinslöschende Prozedur, die immer ein großes Loch in der Timeline hinterließ. Aber seit dem Ether Day am 16. Oktober 1846 gab es keine Alternative mehr zu der betäubenden Methode, denn alle Welt hielt sie nun für eine barmherzige Errungenschaft und war so stolz darauf, dass ein schlichtes, tapferes Aushalten des Schmerzes nicht mehr zugemutet und ja, auch nicht mehr zugelassen wurde.
Die allermeisten Leidenden waren auch wirklich dankbar dafür.
Und nur wenige, sehr wenige, hatten damit ein Problem.
Sie versuchte, sich zu erinnern, was zuletzt geschehen war, aber sie sah nur verschwommene Schlieren, denn so schnell, wie sie aus der tiefen Dunkelheit aufgetaucht war, hatte das Gedächtnis sie noch nicht wieder einholen können.
Also warten, bis sich alle Teile ihres Selbst um ihr Zentrum versammelt und neu zusammengesetzt hatten.
Sie verlor wieder das Bewusstsein.
Das nächste Erwachen verlief langsamer, schonender, gründlicher. Sie streckte sich, dehnte ihre Glieder, bewegte die Finger und versuchte, sie alle nacheinander einzeln zu spüren.
Ihre nackten Sohlen stemmten sich gegen das angenehm kalte Brett am Fußende.
Ein genussvoller Schauer durchrieselte sie, eine Empfindung stiller Euphorie und stolzen Triumphs: Sie hatte es geschafft.
Wenigstens war sie ganz geblieben.
Dann öffnete sie die Augen und sah, dass ihr rechtes Bein ab dem Knie fehlte.
Es war weg, verschwunden, verloren, obwohl sie es doch ganz deutlich spüren konnte.
Jeden einzelnen seiner Zehen fühlte sie auf der glatten, weißen Platte am unteren Ende des chromblitzenden Klinikbettes, genauso gut und so real wie die auf der linken Seite.
Panik ergriff sie. Welcher ihrer Sinne hielt sie hier zum Narren?
Es konnten nicht beide zugleich recht haben.
Nach einer Weile siegten die Augen gegen die Haptik. Sie hatte schon davon gehört, dass man abgetrennte Gliedmaßen oft noch lange Zeit täuschend echt spüren konnte. Dass man sie auch noch sehen konnte, war ihr allerdings noch nie zu Ohren gekommen. Also begann sie widerwillig zu akzeptieren, was sie sah. Schließlich konnte sie doch zurückgehen und korrigieren, was geschehen war. Den fatalen Unfall vermeiden. 

Aber dann fiel ihr wieder die Narkose ein, die man ihr so wohlmeinend verabreicht hatte.


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Die Erinnerung freilich war noch da.
Aber die war nur ein Weg am Ufer des Zeiten- und Bewusst-seins-Stroms, den man zurückgehen konnte, und sie veränderte nicht wirklich das, was geschehen war, nur, wie man darüber dachte. Es bewertete. Es sich schönbog.
Erinnerung ... noch war sie frisch und unberührt, die Erinne-rung an das, was da gewesen war, vor diesem schwarzen Loch:
»Lass uns heiraten, Ann«, sagte Aidan ernsthaft. »Wir zwei passen doch bestens zusammen. Du liebst Frauen und ich Männer, das ist die ideale Basis für eine stabile, dauerhafte Beziehung. Wir würden wunderbar zusammenleben und hätten doch völlige Freiheit! Hach, ich könnte dir noch stundenlang aufzählen, warum eine Ehe zwischen uns eine umwerfend gute Idee ist.«
Sie suchte in seinem Gesicht nach dem jungenhaften Grinsen und ob es nicht gleich hinter seiner ernsten Miene hervorspringen würde, mit einem triumphierend ausgerufenen ›Nur Spaß!‹
Aber er schien es ernst zu meinen und wenn sie ehrlich war, fand sie seine Gründe für eine Heirat recht überzeugend.
»Na was sagst du? Sag schon, sag schon!«, drängte er und ließ sich mit einem Knie auf dem Boden vor ihr nieder, während er ihre beiden Hände hielt.
Sie lachte. »Du meinst es wirklich ernst, ja? Aber ich weiß nicht so recht. Auf alle Fälle behalte ich meinen Namen. Ich bin eine Fenn und könnte mich mit etwas anderem niemals abfinden.«
»Was wäre denn gegen Annagh Renfield einzuwenden? Ein schöner, ein edler Name! Fenn, das knallt doch wie ein Peitschenhieb, wenn du ehrlich bist.«
»Ach, Fenn gefällt dir nicht? Ich wollte dir nämlich grade eben vorschlagen, dass du meinen Namen annimmst. Aidan Fenn, das klingt entschlossen und erwachsen, finde ich. Da stört die Peitsche doch gar nicht.«
Aidan tat beleidigt. »Oh, es schmerzt mich sehr, zu hören, dass Renfield dir weichlich und kindisch zu klingen scheint.«
Er schnupfte ein paarmal durch die Nase.
Sie musste lachen. »Ach was«, winkte sie ab, »ich wollte dich nur ärgern. Renfield ist ein schöner Name. Ich könnte mich an ihn gewöhnen. Also, wann?«
Sie taten es wirklich.
Schon nach vier Wochen gaben sie sich vor dem Standesbeamten das Jawort.
Im engsten Freundeskreis und ohne Eltern.
Auf eine Hochzeitsreise wollten sie aber keinesfalls verzichten. In Annaghs kleinem Sportwagen ging es die Atlantikküste entlang. Es war ein herrlicher Sommertag, ein wolkenloser Himmel spannte sich über ihnen auf, das Meer war wie dunkelblaue Tinte und brach sich mit einem weißen Saum an den Kalkfelsen der Küste.
Die schmale, kurvige Straße forderte Annaghs ganze Aufmerksamkeit. Sie trug das Kopftuch aus roter Seide, sein Hochzeits-geschenk, aber der Knoten des glatten Stoffstreifens löste sich im Fahrtwind, er drohte wegzufliegen und sie griff nach ihm, verriss das Lenkrad, pass auf, Ann! rief Aidan und sie lenkte gegen, da kam auf der anderen Fahrbahn, die zwanzig Minuten lang leer gewesen war, ein Laster mit Zement und Sand entgegen, dem sie nicht mehr ausweichen konnte.

»Tut mir leid, Aidan«, stöhnte sie, dann kam die Dunkelheit, die tiefe Schwärze...

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So berichtete die Erinnerung, aber der Zeitenstrom ihres Bewusstseins hatte ein Loch, das sie nicht überwinden konnte.
Als der Tubus, der ihr beim Atmen half, endlich entfernt wurde, hatte sie nur eine Frage: »Aidan«, krächzte sie, »wo ist Aidan?«
Die Schwester legte den Finger auf die Lippen: »Pssst! Später, Sie sind noch viel zu schwach.«
»Was ist mit ihm?«
An ihrem Gesicht zerrten große Schmerzen.
Die Schwester injizierte etwas Flüssigkeit in den durchsichtigen Infusionsschlauch. Eine Welle der Leichtigkeit und des Wohlbefindens durchflutete die Leidende, spülte den Schmerz weg und trug sie in einen langen, bilderlosen Schlaf.
Später, als die Schläuche und Kabel langsam weniger wurden und schließlich ganz verschwanden, setzte man sie in einen Rollstuhl, der in übertrieben kräftigen Farben gehalten war und wohl einen lebensfrohen Eindruck machen sollte.
Weil sie nicht locker ließ zu fragen, sagte man ihr, dass Aidan den Unfall nicht überlebt hatte und schob sie noch am selben Tag zu Doktor Otis, einen erfahrenen Therapeuten, der an der Sixtus-Spezialklinik für Amputationen den meist schwer traumatisierten Patienten durch die erste Schockphase nach einer Operation half.
Sie hüllte sich zuerst in ein trotziges, vorwurfsvoll wirkendes und auch genauso gemeintes Schweigen, als mache sie Otis mit seinen zwei gesunden Beinen für alles verantwortlich, das ihr widerfahren war.
Dr. Otis war mit dieser häufig anzutreffenden Reaktion vertraut und übte sich in Geduld. Er erzählte von sich und seinen Erlebnissen mit wirklichen oder erfundenen Patienten, ohne dabei allzu offensichtlichen Bezug auf Annaghs Situation und vermutliche Verfassung zu nehmen, aber auch nicht gänzlich ohne einen verständnisvollen Blick auf ihre Lage.
Sie hörte sich das alles an, zog nur manchmal eine verächtliche Miene, wenn sie meinte, eine tröstende Absicht erkannt zu haben, harrte aber die ganze Stunde aus und verlangte nicht, weggebracht zu werden.
In der vierten Stunde brach sie ihr Schweigen.
»Ich bin schuld, dass er tot ist«, sagte sie leise, »und ich kann nichts mehr daran ändern.«
Otis wartete, ob sie weitererzählen würde und sah sie nur aufmerksam und interessiert an. Es kam nach Unfällen nicht selten vor, dass die Verunglückten die Erinnerung an das Unfallgeschehen verloren hatten, sie aber wusste alles noch sehr genau und erzählte es ruhig und sachlich, als hätte sie alle Emotionen eingekerkert in einem sicheren Raum, damit sie ihr nicht die Stimme raubten und die Tränen in die Augen trieben bei ihrem Bericht.
Sie endete mit fast dem gleichen Satz, den sie schon zu Beginn der Stunde gesagt hatte: »Es ist meine Schuld, dass er tot ist und daran kann ich nun nichts mehr ändern.«
Otis horchte auf.
Da war eine Betonung, eine Nuance, die ungewöhnlich klang. »Was meinen Sie damit«, fragte er, »Sie könnten nun nichts mehr daran ändern? Ist es nicht so, dass Sie in keinem Fall etwas ändern könnten? Ich meine, niemand kann Tote wieder zum Leben erwecken.«
Sie schwieg eine Weile, als sei sie unsicher, ob sie antworten sollte, aber dann schüttelte sie den Kopf: »Nein, da haben Sie unrecht, Doktor. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber ich hätte etwas tun können, um seinen Tod ungeschehen zu machen. Aber da war diese Narkose. Man hat mein Bewusstsein betäubt, um mir das Bein abzunehmen. Und nun kann ich nicht mehr zurück."
»Weil Sie nur mehr ein Bein haben?«
Sie schüttelte wieder den Kopf, diesmal etwas ungeduldig:
»Nein, doch nicht deshalb! Sie verstehen nicht. Die Narkose! Die Bewusstlosigkeit. Das ist der Grund. Deshalb kann ich nun nicht mehr zurück.«
Dr. Otis wartete wieder, ob sie weiter über diese Sache reden wollte, aber sie verfiel stattdessen in ein Schweigen, das auf ihn wirkte, als hätte sie vollständig vergessen, wo sie war. Und dass er auch noch da war.
»Sie haben mehrere Liter Blut übertragen bekommen«, brachte er sich nach einer Weile in Erinnerung. »Haben Sie damit ebenfalls Probleme? Man konnte sie nicht fragen und Sie trugen auch kein Statement bei sich, das es verboten hätte.«
Sie sah ihn erst verständnislos an, aber dann begriff sie.
»Ach, Sie meinen... nein, das ist es nicht. Es ist nichts Religiöses. Und ich habe auch nichts gegen Bluttransfusionen.«
Sie schien mit sich zu ringen, fügte dann aber doch noch hinzu:
»Suchen Sie im Netz unter ›Amniviator‹, dann werden Sie mich besser verstehen.«
Sie wirkte erschöpft, als habe dieser Hinweis und ihr Kampf um die Entscheidung, ob sie ihn geben sollte oder nicht, ihr eine große Kraftanstrengung abverlangt.
Wenig später wollte sie wieder zurück auf die Station gebracht werden.
Dr. Otis war der Begriff Amniviator noch nie begegnet.
Deshalb folgte er der Empfehlung seiner Patientin und sah sich im Netz um.
In seriösen Quellen war da nichts zu finden, dafür landete er auf einer Unmenge von Esoterikseiten, die krudes Zeug über sein Suchwort zu vermelden hatten und der Unsinn variierte auch noch stark von Seite zu Seite.
In der Onlineausgabe eines populärwissenschaftlichen Magazins fand er schließlich ein Glossar mit esoterischen Stichwörtern, das den Begriff enthielt und in einer eingängigen Zusammenfassung beschrieb, was er bedeutete:
Der ›Amniviator‹ oder ›Stromwanderer‹ kann angeblich im Strom (lat. amnis) seiner Lebenszeit reisen (lat. viare) bis hoch an die Quelle und hinunter bis zur Mündung, wo der Strom im Ozean aufgeht. Er soll sich so im Kontinuum seiner eigenen Lebenszeit frei bewegen und es an jeder beliebigen Stelle verlassen können, um sein Leben dort weiter oder neu zu leben, also auch mit allen Möglichkeiten einer Veränderung.
Schon aus keltischer Vorzeit sind Berichte über Menschen bekannt, die über die Fähigkeit des Stromwanderns verfügt haben sollen, was ihnen große Macht verlieh. Auch Merlin soll das Stromwandern beherrscht haben.
Es wird aber auch von einer Limitierung berichtet: Wird nämlich der Strom des Bewusstseins unterbrochen, etwa durch tiefe Ohnmacht, eine Bewusstlosigkeit, dann entsteht an dieser Stelle ein Loch, in dem der Strom verschwindet.
Diese Barriere kann dann nicht mehr überwunden werden.
Anhänger dieser mit allen Zeitreise-Paradoxien behafteten Vor-stellung glauben, dass es auch heute noch vereinzelt Amniviatoren gibt. Für den zeitgenössischen Stromwanderer sei allerdings die Anästhesie zu einem großen Problem geworden, die in Notsituationen ungefragt angewendet werde und dabei Beschädigungen des Zeitstroms verursache.

Otis fiel plötzlich wieder ein Beitrag in einer Fachzeitschrift ein, der ihm vor Jahren untergekommen war. Ein Mann hatte sich damals in einer Rehabilitationseinrichtung das Leben genommen und einen rätselhaften Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er sich bitter über ›Betäubung ohne Not‹ beklagte, die sein Leben ›limitiert‹ habe und er forderte, jeder solle mit einem stets bei sich zu tragenden Notfallpass ausgestattet werden, in dem er Anästhesie als eine unerwünschte Zwangsbehandlung ablehnen könne. Die Erinnerung an diesen Artikel beunruhigte Otis und er ordnete sicherheitshalber in der Klinik für die Patientin Annagh Renfield eine erhöhte Beobachtungsstufe an.
»Ich habe meine Hausaufgaben gemacht«, begrüßte er sie beim
nächsten Termin, »und ich denke, Sie hatten recht. Ich verstehe Sie jetzt ein wenig besser.«
Sie sah ihn zweifelnd an und erwiderte: »Wirklich? Vermutlich halten Sie mich doch jetzt eher für verrückt, oder welchen freundlichen Fachausdruck Sie dafür auch verwenden mögen. Stromwandern für real zu halten passt nicht in ihr modernes, wissenschaftlich geprägtes Weltbild.«
Otis runzelte die Stirn und beschloss, das Risiko einzugehen und offen seine Meinung zu sagen:
»Der Fachausdruck, der mir dabei einfällt heißt ›Schuldver-schiebung‹. Offenbar machen Sie sich große Vorwürfe, den Tod ihres Mannes verursacht zu haben und wünschen, Sie könnten den Unfall ungeschehen machen. Dabei greifen Sie auf diesen Stromwanderer-Mythos zurück und meinen, selbst ein Amniviator, besser gesagt, eine Amniviatrix zu sein. Ihr Vorname ist keltischen Ursprungs. Vielleicht hat Sie das in der Annahme, oder sollte ich sagen: Hoffnung? bestärkt, solche Fähigkeiten könnten auch in Ihnen schlummern.«
»Und wohin hätte ich nun die Schuld verschoben?«, fragte sie ärgerlich und ungeduldig dazwischen.
»Nun, ganz einfach: Auf die moderne Anästhesie, die ja Ihren Bewußtseinsstrom unterbrochen hat und damit ihre Rückkehr zu einem Zeitpunkt vor dem Unfall verhindert, von dem aus Sie alles wieder hätten in Ordnung bringen können. Und nicht nur abstrakt der Anästhesie geben Sie die Schuld, sondern auch denen, die sie so gedankenlos anwenden, den Ärzten, Leuten wie meinen Kollegen und mir, die esoterischen Mythen zweifelnd gegenüberstehen.«
Sie widersprach nicht, sondern schwieg eine Weile und schien nachzudenken.
»Gut«, sagte sie dann, »Sie haben Ihre Diagnose. Aber Sie ist falsch. Ich gebe Ihnen keine Schuld. Nicht für meinen Zustand und nicht für Aidans Tod und die Anästhesie ist ein Segen. Jedenfalls für die allermeisten Menschen.«
»Verstehen Sie mich recht«, erwiderte Otis, »ich versuche aufgeschlossen zu sein auch für ungewöhnliche Vorstellungen, die von rationalistischen Skeptikern gemeinhin nur belächelt werden. Trotzdem habe auch ich einige Probleme mit diesem Konzept der Stromwanderung.«
»Was stört Sie denn daran? Dass man Fehler, die man begangen hat, korrigieren kann? Sehen Sie Ihre Arbeitsgrundlage bedroht, wenn nicht mehr Folgen und Bewertung schuldhaften Verhaltens bearbeitet werden müssen, sondern Schuld direkt ausgelöscht werden kann? Das müssen Sie nicht fürchten. Dazu ist die Fähigkeit viel zu selten. Vielleicht gibt es einen unter einer Milliarde Menschen.«
»Eine äußerst exklusive Gabe, wie es scheint, über die nur besondere Menschen verfügen, nicht wahr?«
»Ist es das, was Sie stört? Meine Arroganz anzunehmen, ich sei so besonders?«
»Oh, nein, das ist es nicht. Zweifellos sind Sie besonders. Nein, es sind eher ganz triviale Logikprobleme, die mir da zu schaffen machen. Die üblichen Paradoxien, die bei Zeitreisen auftreten. Es ist doch eine Zeitreise, die da vollzogen wird, nicht wahr?«
Sie nickte. »So kann man sagen, ja.«
»Gut. Nehmen wir also einmal an, Sie hätten keine Narkose be-kommen und würden in Ihre eigene Vergangenheit zurückreisen, zu einem Zeitpunkt vor dem Autounfall. Dadurch könnten Sie das Unglück vermeiden und ungeschehen machen. Aber damit würden Sie auch das gesamte Geschehen verändern, das danach stattgefunden hat, mit unabsehbaren Folgen. Unser Gespräch hier würde nie geführt werden und ich hätte vielleicht grade einen Termin mit einem anderen Patienten, der mich in einem Anfall geistiger Umnachtung ermordet. Wären Sie dann nicht wiederum schuld an meinem Tod, weil Sie den Zeitenlauf verändert haben?«
Anagh lachte.
Zum ersten Mal, seit er sie kannte, sah er sie lachen.
»Ich hatte ja schon einige Diskussionen über Zeitparadoxa, Doktor«, meinte sie, »aber Ihr Argument ist ohne Zweifel das witzigste, das ich bislang gehört habe. Ich meine, es ist witzig formuliert, obwohl es im Grunde nichts anderes ist, als eine Variante des bekannten Großvater-Paradoxons. Sämtliche gängigen Zeitreise-Probleme sind mir durchaus vertraut und nein, ich kann sie auch nicht endgültig auflösen. Aber es gibt Erklärungen. Eine davon besagt, bei jeder Veränderung des Zeitstroms würden neue Universen sich abspalten, die nicht abhängig vom ursprünglichen sind und also auch nicht im Widerspruch zu ihm stehen können. Eine andere nimmt an, es existiert nur eine Simulation, in der jedes Individuum alleine lebt, wie in einer Blase. Umwelt und Mitmenschen sind lediglich simulierte Realität. Komponenten, lose Enden sozusagen, die durch Zeitkorrekturen überflüssig geworden sind, würden dann verworfen werden oder nicht mehr weiterentwickelt. Was von alledem nun richtig ist«, sie zuckte mit den Schultern, »ich weiß es nicht.«
Dann lachte sie noch einmal und sah plötzlich aus wie zwanzig, obwohl ihr Alter in der Akte mit achtunddreissig angegeben war.
»Jedenfalls, was Ihren Tod betrifft, den ich möglicherweise verschulden könnte: Davon wüsste ich ja wohl nichts, ein Umstand, der die Schwere meiner Schuld für mich erträglicher machen würde. Und vielleicht wäre ja auch dieser hypothetische Ersatzpatient gar nicht ihr Mörder, sondern die Frau ihres Lebens, mit der sie glücklich und zufrieden alt werden möchten. Diese Schuld würde ich mir dann gerne aufbürden.«
Otis freute sich darüber, dass seine riskante Offenheit das Eis etwas gebrochen hatte und wagte es deshalb, in einer Sache nachzuhaken, die er anderenfalls einfach übergangen hätte:
»Sind Sie denn sicher, dass ich nicht schon vergeben bin?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Oh ja, ganz sicher«, nickte sie. »Die Schwestern reden darüber. Pausenlos.«


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Ab diesem Zeitpunkt verliefen ihre Gespräche anders.
Sie war jetzt offener, erzählte mehr, wenn auch immer noch wenig über sich selbst. Vor allem sprach sie nie über den Verlust ihres Beines, also fragte er eines Tages, ob sie es nicht vermisse. »Ich kann es noch spüren«, erwiderte sie, »ich kann nur nicht mehr gehen damit.«
Dr. Otis fragte weiter nach und erfuhr, dass sie es mehr als nur spürte. Es verursachte ihr oft große Schmerzen, die sie nicht verstand und die ihr Angst machten. Er erklärte ihr, was Phantomschmerzen waren und bot ihr an, es bei ihr mit Hypnotherapie zu versuchen und dazu mit ihr in tiefe Schichten ihres Bewusstseins einzutauchen.
Da horchte sie auf, beugte sich im Rollstuhl vor und bat ihn, mehr von dieser Methode zu erzählen, wie sie funktionierte und was man mit ihr erreichen konnte.
Otis erklärte ihr die Grundzüge der Hypnose und ihre spezielle Anwendung bei der Behandlung von Phantomschmerzen und sah ganz weit hinten in ihren Augen, die ihn bisher eher traurig und abgeklärt angeblickt hatten, einen Funken Hoffnung aufscheinen.
Sie absolvierten zusammen einige Sitzungen, die sehr gut verliefen. Ihre Schmerzen traten immer seltener auf und waren dann auch sehr viel weniger heftig als zuvor.
Als Otis die Behandlung abschließen wollte, weil sie ganz verschwunden waren, sagte sie zu ihm: »Hören Sie, Dr. Otis, ich habe in letzter Zeit viel über suggestive Methoden gelesen und halte Sie für einen sehr fähigen Hypnotherapeuten. Ihr Erfolg spricht ohnehin für sich. Ich bin Ihnen sehr dankbar und ihre freundliche, verständnisvolle Art ermutigt mich, eine Bitte an Sie heranzutragen, die Ihnen ungewöhnlich erscheinen mag. Zumindest wird sie Sie davon überzeugen, dass ich noch immer einer gewissen fixen Idee anhänge, die Sie vielleicht schon für überwunden angesehen haben. Es tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche, aber die Sache ist mir wirklich sehr wichtig.«
Otis, leicht verwundert über die lange, gedrechselte Vorrede, zog fragend die Brauen hoch und ermunterte sie, ihr Anliegen vorzubringen.
Sie ließ sich nicht lange bitten:
»Wie Sie vermutlich wissen, ist der Begriff des Stromwanderers von einem Bild abgeleitet, welches das Bewusstsein als dahinfließendes Gewässer darstellt, in dem sich der Wanderer hin und her bewegen kann. Bisher nahm ich immer an, Bewusstlosigkeit würde eine Unterbrechung des Stroms bewirken, aber angeregt durch unsere gemeinsame Arbeit in den letzten Tagen vermute ich nun eher, dass der Strom nur versickert und gleichsam unterirdisch weiterfließt, bis er wieder an die Oberfläche tritt. Verstehen Sie, genauso wie dieser große Flusslauf in Europa es tut.«
Otis nickte. »Ich vermute, Sie meinen die Donauversickerung. Ich habe schon von diesem Naturphänomen gehört.«
»Ja, man könnte glauben, der Fluss sei ausgetrocknet, aber er ist noch da, nur tief unter der Erde. Genauso ist vielleicht das Bewusstsein bei tiefen Ohnmachten oder Narkosen gar nicht verschwunden, sondern zieht sich nur in tiefere Schichten zurück. Wenn man nun hinabstiege in die dunkle Höhle, vielleicht müsste man nur ein paar Steine im Wasser finden und könnte auf ihnen entlangspringen bis zu der Stelle, wo das Wasser in der Erde verschwand.«
Otis betrachtete forschend ihr ernstes Gesicht und überlegte, was es nicht hübsch und schon gar nicht gefällig, aber so ungewöhnlich anziehend erscheinen ließ: Die Nase zu lang, die Lippen zu schmal, vor allem die obere, die Augen eine Spur zu weit auseinander, die Haut blass, fast totenbleich, und trotzdem in der Summe aller kleinen Makel diese überraschende, fast einschüchternde Schönheit, der er unwillkürlich gefallen wollte. Immer wieder, und gegen sein besseres Wissen.
»Verstehe«, seufzte er, »und ich soll Ihnen jetzt helfen, diese Steine zu finden.«

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Die Stimme von Dr. Otis, fest, sanft und sicher, nahm sie an der Hand wie ein Kind und führte sie zurück in die empfindungslose, erinnerungslose Schwärze.
Eine Frauenstimme. Warm, beruhigend:
»Keine Angst, alles ist gut. Alles ist gut. Die Maschine atmet für Sie, keine Angst.«
Männerstimmen. Sachlich, betroffen:
»Wie alt ist die Frau denn, wissen wir das?«
»Laut Führerschein achtunddreissig.«
»Immer tragisch, so jung.«
»Ja, sicher. Aber geht doch nicht anders.«
Männerstimmen. Bestürzt, hilflos:
»Herrje, wie sieht das denn aus! Nur noch Brei. Wo ist die Patella?«
»Vielleicht noch im Auto. Sollen wir nach ihr suchen lassen?«
»Sinnlos. Die wird sie nicht mehr brauchen.«
Männerstimmen. Angespannt, konzentriert:
»Zuerst die Frau! Lasst den Mann! Der Mann ist tot.«
Aidans Stimme. Angstvoll, entsetzt:
»Pass auf, Ann! Der Lastwagen...«
Dann ließ die Hand sie los und sie stolperte hinaus ins Licht.


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»Lass uns heiraten, Ann«, sagte Aidan ernsthaft.
»Wir beide passen doch bestens zusammen. Du liebst Frauen und ich Männer, das ist eine ideale Basis für eine stabile, dauerhafte Beziehung. Wir würden wunderbar zusammenleben und hätten doch völlige Freiheit! Hach, ich könnte dir noch stundenlang aufzählen, warum eine Ehe zwischen uns eine umwerfend gute Idee ist.«
Sie lachte. »Du meinst es wirklich ernst, ja? Aber ich weiß nicht so recht. Stimmt schon, dass ich Frauen liebe, weil sie sanfter sind, einfühlsamer. Ich habe keine Männer gekannt, die so waren. Aber nun, vor Kurzem habe ich einen getroffen, der all das hatte, was ich immer nur bei Frauen suchte und fand. Das ändert einiges.«
»Oje«, murrte Aidan und tat übertrieben enttäuscht, »du hast dich verliebt in einen Kerl! Dass ich das erleben muss! Meine beste Freundin wechselt über ins Heten-Lager! Das ändert in der Tat so manches. Man stelle sich vor, ich bringe meinen neuesten Aufriss mit nach Hause und du verknallst dich in ihn und drehst ihn mir um! Nein, ich glaube, du hast soeben die Basis unserer Ehe zerstört.«
Annagh lachte.
»Du bist doch gar nicht reif für die Ehe, mit wem auch immer, du Kindskopf!«
»Oh, das schmerzt! Dabei hatte ich schon eine nette Idee für die Hochzeitsreise. Stell dir vor: Wir beide die Küste entlang, bis hoch nach Bismo, mit deinem kleinen Flitzer.«
»Daraus wird nichts, mein lieber Aidan. Ich meine, es geht in Richtung Bismo, das ja, aber ohne dich, und der Flitzer bleibt schön in der Garage, denn deine beste Freundin nimmt den Bus. Ich weiß gar nicht, in wie vielen Welten du mir dafür danken solltest.«
Er ließ ein lautes Stöhnen hören. »Ich hasse es, wenn du immer so daherorakelst, du keltische Hexe!«, spielte er den Genervten. »Lass gut sein«, erwiderte sie. »Du hast ja keine Ahnung, was ich auf mich nehmen musste, damit alles so geschieht, wie ich es eben gesagt habe. Bleib wie du bist und genieße das Leben, Aidan, wie du es immer versucht hast, aber finde endlich heraus, was und wen du wirklich dazu brauchst.«
»Ich bin verwirrt! Ist das ein Abschied? Das klingt irgendwie so endgültig.«
Annagh schüttelte den Kopf.
»Was ist schon endgültig«, lachte sie, »zuweilen nicht einmal der Tod.«


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»Können Sie sich noch erinnern, was geschah, bevor Sie hier aufgewacht sind?«, fragte Dr. Otis die Frau mit der steifen Hals-krause und dem bandagierten Kopf, die man in einem der grauen Klinikrollstühle vor seinem Schreibtisch abgestellt hatte.
Sie betrachtete ihren rechten Fuß, der in einem dicken Verband steckte und runzelte die Stirn.
»Ich weiß nur noch, dass ich im Bus eingeschlafen sein muss. Dann gab es lautes Kreischen und Quietschen und einen entsetzlichen Stoß und dann bin ich hier im Krankenhaus wieder aufgewacht.«
Otis nickte und blätterte in der Patientenakte, die vor ihm lag.
»Ja, das Busunglück«, sagte er,  »Sie hatten unwahrscheinliches Glück. Der Bus musste auf der engen, kurvenreichen Straße einem Laster ausweichen und ist dabei in die Tiefe gestürzt. Zum Glück gab es an dieser Stelle acht Meter weiter unten einen breiten Felsvorsprung, auf dem er liegen blieb, sonst wäre es noch dreissig Meter weiter abwärts gegangen. Das hätte wohl keiner im Bus überlebt.«
»Und wieviele Tote gab es bei diesem besonderen Glücksfall?«, fragte die Frau, deren ungewöhnlich apartes Gesicht auch der Verband nicht entstellen konnte.
Otis überhörte die Ironie.
Mit solchen Reaktionen war er vertraut.
»Zwei«, erwiderte er, »nur zwei, aber dazu noch viele Verletzte. Darunter auch Sie. Mit wirklich viel Glück, denn beinahe wären Sie der dritte Todesfall geworden.«
Sie zeigte Wirkung. »So schlimm? Das hat man mir bisher noch nicht erzählt. Wohl um mich zu schonen.«
Sie musterte wieder ihren Fuß. »Ich weiß nicht einmal, was unter diesem Verband da los ist.«
Otis hatte den Eindruck gewonnen, der herben Schönheit mit dem keltischen Vornamen könnte die ganze Wahrheit zugemutet werden.
»Nun, Annagh, Sie wissen sicher, dass die Sixtus-Klinik auf Amputationen spezialisiert ist. Ihr Fuß war eingeklemmt und wies schwere Quetschungen auf. Zwei von Ihren Zehen waren leider nicht mehr zu retten. Schlimmer als das war allerdings der Bruch eines Halswirbels. Atmung und Kreislauf waren bereits zum Stillstand gekommen. Sie waren, wenn man es dramatisch sagen will, klinisch tot, als Sie mit dem Hubschrauber hier eintrafen. Unser Reanimationsteam hat über eine Stunde lang um ihr Leben gekämpft und konnte Sie dann wieder zurückholen. Und außerdem eine Querschnittslähmung ab HWS verhindern. Die Kopfverletzungen, denen Sie diesen hübschen Verband verdanken, sind gottlob weniger dramatisch. Es wurden keine Schädigungen des Gehirns festgestellt.«
Sie brauchte einige Minuten, um das alles zu verdauen.
»Ich habe mir also das Genick gebrochen«, rekapitulierte sie schließlich, eine tiefe, steile Falte zwischen den Augen.
»Ja, aber die Fraktur wird wieder vollständig ausheilen.«
»Und ich habe zwei Zehen verloren. Welche denn?«
Otis blätterte wieder in der Akte.
»Digitus pedis IV und Digitus minimus. Also den kleinen und den daneben.«
Die Falte zwischen ihren Augen glättete sich langsam.
»Ich denke, damit kann ich leben«, sagte sie dann.
»Ganz sicher. Sie werden anfangs besondere Schuhe brauchen und üben müssen, die Balance zu halten unter den neuen Gegebenheiten.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen und schien es akzeptabel zu finden.
Etwas anderes beschäftigte sie weitaus mehr.
»War ich wirklich schon tot?«
»Klinisch tot, ja, aber nicht biologisch. Es gab Atem- und Herz-
stillstand, aber ihr Gehirn war noch am Leben. Hatten Sie denn irgendwelche Nahtod-Erlebnisse?«
Sie überlegte.
»Nein, ich erinnere mich an nichts derartiges. Obwohl... irgendetwas war da.«
»Vielleicht können wir es ja zusammen ans Licht bringen, wenn Sie wollen«, bot der Doktor ihr an. »Es wäre mir ein Vergnügen, Frau Fenn.«


Entnommen dem Band  "Stromwanderer"   

© 2020  Herbert Fahrnholz